Praktika
Das an allen Waldorfschulen stattfindende „klassische“ Landwirtschaftspraktikum und das an manchen Waldorfschulen übliche Kleinbetriebspraktikum der 9. Klasse sind erste Schritte der Auseinandersetzung mit einer überschaubaren Arbeitswelt. Sie sollen den im Jugendlichen nun stark erwachenden Fragen nach allen Lebensvorgängen begegnen können.
Praktika in der Arbeitswelt
Das Landwirtschaftspraktikum ist noch für alle ein erstes praktisches Erfahrungsfeld („Urberuf“), das auch noch andere pädagogische Intentionen birgt:
- in einer anderen Familie leben
-
sich von den Gewohnheiten des eigenen Familienalltags lösen (z. B. Ernährung, Freizeitverhalten)
-
umfassendes Miterleben des Bauerndaseins, das stark beeinflusst ist von der Arbeit an der Erde, den Pflanzen, den Tieren, und insofern einen eigenen Rhythmus hat.
Die Jugendlichen lernen hier Arbeit noch im ursprünglichen Wortsinn als ‚schwere körperliche Anstrengung, Mühsal‘ kennen – trotz vieler technischer Hilfsmittel. Die Eintönigkeit einer Kartoffelernte oder das Putzen einer Riesenmenge Sellerieknollen ist ein mühseliges Erlebnis. Dieses Praktikum wird von Jahr zu Jahr zu einer größeren Herausforderung für die Jugendlichen. Der Gegensatz zwischen den bereits eingeschliffenen Gewohnheiten und den Arbeitserfordernissen am Bauernhof ist gewaltig!
Das Kleinbetriebspraktikum ist bereits stärker individualisiert, indem die SchülerInnen sich (noch eher gemüthaft) ein Interessensfeld suchen. Hier liegt eine wesentliche pädagogische Intention in Hinblick auf die weitere Arbeitsweltorientierung auch im praktischen Erfahren eines überschaubaren Kleinbetriebs. Wie ein Betrieb funktioniert, kann so aus der eigenen Mitarbeit erkannt werden (praktische Wirtschaftskunde).
In der weiteren Oberstufe gibt es dann an manchen Waldorfschulen noch ein oder zwei weitere individuelle – meist dreiwöchige – Praktika in der Arbeitswelt. Sie haben den Charakter der individuellen Biografie-Orientierung. Hier sollte es dem jungen Menschen jedenfalls ermöglicht werden, ein Lernen an einem anderen Ort als der Schule zu erleben (Vorbereitung auf „lebenslanges Lernen“) sowie echte Mitarbeit in einem individuell zu wählenden Arbeitsweltbereich zu leisten.
Wir wissen von den Schulabgängern, dass die Praktika während der Schulzeit einen sehr hohen Stellenwert für ihre Persönlichkeitsbildung hatten. Je mehr diese Praktika den jungen Menschen im Hier und Jetzt die Möglichkeit geben, Fähigkeiten zu üben, sich zu erproben, zu spüren, dass sie gebraucht werden, desto mehr Bildungswert besitzen sie.
Das bedeutet aber auch, dass die Arbeitsweltbegegnung biografische Hilfe sein soll. Die begleitenden LehrerInnen sind daher aufgerufen, die Jugendlichen darin zu unterstützen, an ihren inneren Impulsen anzuknüpfen. Nicht also die äußere Auffächerung der Arbeitswelt in Berufsfelder ist wesentlicher Ansatzpunkt der Suche nach „meinem“ Praktikumsplatz , sondern das Aufspüren der inneren Berufung: wozu bin ich berufen – wo ist „mein“ Feld der Weltbegegnung – wo will ich in der Welt verändernd tätig sein – welches außerschulische Lernfeld ermöglicht mir die Auseinandersetzung mit meinen Impulsen?
Ausnahme der individuellen Orientierung ist das Sozialpraktikum, das in der 12. Klasse (bzw. am Ende der 11. Klasse) von allen SchülerInnen absolviert wird. Das Praktikum im sozialen Erfahrungsfeld bietet dem Jugendlichen die Entfaltungsmöglichkeit eines neuen Bewusstseins. Er nimmt teil an der gemeinsamen Gestaltung des menschlich-gesellschaftlichen Lebens und erlebt die Bedeutung des individuellen Seins für Leben und Entwicklung anderer Menschen. Die Arbeitshaltung erfordert vor allem die Fähigkeit oder zumindest das Bemühen, die eigenen Interessen zurückzustellen, sich auf völlig neue soziale Erfahrungen einzulassen und sich den Mitmenschen zu widmen.
Im Verlaufe der Oberstufe haben die Jugendlichen nun im besten Falle 15 Wochen in der Arbeitswelt gelernt und wertvolle Erfahrungen gesammelt. Sie werden auch in Berufsfeldern gearbeitet haben, die eine universitäre Ausbildung erfordern. Es ist nur logisch, die bald schon der Schule entwachsenden Jugendlichen nun auch an bzw. über die Schwelle der Universität zu führen. Daher bieten manche Schulen zum Abschluss noch eine Universitätswoche an.
Eine wesentliche Anforderung im Bereich unserer Arbeitsweltorientierung ist die Dokumentation, Reflexion und Präsentation der eigenen Erfahrungen.
"Die Weisheit eines Menschen misst man nicht nach seinen Erfahrungen, sondern nach seiner Fähigkeit, Erfahrungen zu machen".
George Bernard Shaw