Schulreife

„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht." sagt ein afrikanisches Sprichwort. Plastischer kann man die Tatsache nicht beschreiben, dass Kinder Zeit brauchen, wenn in ihnen Fähigkeiten nachhaltig heranreifen sollen.

Wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus den verschiedensten Bereichen belegen, dass Stress und Druck, auch Zeitdruck, die gesunde Entwicklung eines Kindes dramatisch behindern. Es gibt bisher keinerlei Hinweise darauf, dass die Vorverlegung des Einschulungsalters eine gesunde Entwicklung fördern würde, geschweige denn, dass damit etwa die Lernfreude oder die Lernergebnisse gesteigert würden. Das Gegenteil ist der Fall. Wir Kinderärzte sehen in der Praxis diverse psychosomatische Folgen von nicht altersgemäßem Stress.

Deshalb ist es das Anliegen der Waldorfpädagogik, jedem Kind die von ihm benötigte Entwicklungszeit zu geben sowie die altersentsprechenden Erziehungsangebote zu machen - damit es seine leiblichen, seelischen, geistigen und sozialen Fähigkeiten möglichst gesund entfalten kann und seine Lebenskraft nicht unzeitgemäß verbrauchen muss.

Nicht „so früh wie möglich" ist die Devise, sondern „alles zu seiner Zeit".

Die Sorge, wertvolle Lebenszeit der Kinder werde verschwendet, wenn sie nicht früher in die Schule gingen, ist fehl am Platz. Wird das Kind zu früh eingeschult, hat es nicht „ein Jahr gewonnen“ sondern Kindheit verloren. Oft „holt“ es sich dieses Jahr irgendwann wieder zurück- vorher aber musste es sich plagen um den anderen Kindern nachzukommen- in schulischer und sozialer Sicht. Wird nur die intellektuelle Entwicklung des Kindes als Kriterium herangezogen, besteht die Gefahr, das Kind nicht in seiner Gesamtheit zu erfassen.

Die Entscheidung der Schulreife eines Kindes bei der Aufnahme in unsere Schule wird von den Eltern, den LehrerInnen des Aufnahmeteams und der Schulärztin gemeinsam getroffen. Die Kindergärtnerin wird- so sie uns „zur Verfügung steht“- um ihre Eindrücke gebeten.

Welche Schulreifekriterien gibt es:

Gestaltwandel

Beim neugeborenen Kind beträgt die größe des Kopfes ein Viertel der gesamten Körpergröße, beim erwachsenen Menschen ein Achtel. Für den Künstler sind diese Größenverhältnisse im sog. Kanon festgelegt. Nun ändern sich diese Proportionen im Laufe der 21 Lebensjahre vom Neugeborenen bis zum „er-wachsen“ Sein nicht kontinuierlich sondern in Entwicklungsschüben. Einer ersten Füllung im Kleinkindalter folgt zwischen dem 5 1/2. und 7. Lebensjahr die erste Streckung. Im Gegensatz zur Pubertät – wo Arme und Beine von der Peripherie her wachsen und so eine vorübergehende Disproportion ergeben – zeigt sich diese erste Steckung kontinuierlich und harmonisch. Auf einmal sehen wir: das Kind ist gewachsen: seine Arme und Beine sind schlanker und länger geworden, der Rumpf schmäler, der Kopf in der Proportion kleiner, die Geschichtszüge ausgeprägter und individueller. Das Kleinkindgesicht ist verschwunden. Einher geht damit auch eine ausgeprägtere S-Krümmung der Wirbelsäule, eine sichtbare Taille und deutlich sichtbare Gelenke an Armen und Beinen statt Grübchen. Aus dem runden Kleinkind ist ein schlankes Schulkind geworden.

Zahnwechsel

Der Zahnwechsel zeigt an, dass die Kleinkindzeit abgeschlossen ist und das Kind seinen Leib nun selbst ergriffen hat. Die „Milchzähne“ werden abgegeben zugunsten selbst gestalteter Zähne. Der Zahnwechsel kann mit dem Wechsel der Frontzähne oder dem Durchbruch der Backenzähne, der sogenannten Sechser beginnen.

Motorische Entwicklung

Die einzelnen Körperteile können nun getrennt voneinander geführt werden. Zum Hüpfen braucht das Kind nicht mehr das Schwungholen durch die Arme, beim Ballwerfen oder –fangen können die Arme weg vom Körper gebraucht werden. Mitbewegungen und -reflexe sind abgebaut. Das linke und das rechte Bein können alleine bewegt werden, die einzelnen Finger selbständig geführt. Eine differenzierte FEINMOTORIK ermöglicht dem Kind, gezielte, feine Bewegungen auszuführen.

Die Denkkräfte

sind frei geworden. Während das Kleinkind selbst wie ein großes Sinnesorgan für die Welt war und ganz in der Nachahmung lebte brauchte es noch die Umhüllung der Eltern oder des Kindergartens. Nun wacht es auf und zeigt einen neuen Eifer, die Welt kennen zu lernen. Die Geste des Kleinkinds war: „Ich schwimme im Strom meiner Familie, des Kindergartens mit.“ Sein Wunsch jetzt ist: „Ich möchte von meinem Lehrer etwas lernen, was ich mir selbst zu eigen mache.“ Sein Gedächnis befreit sich von Assoziationen, von Reihenfolgen – das Kind kann mit seinen neuen Gedächtnisfähigkeiten spielen und tut es gerne.

Die sozialen Fähigkeiten

haben sich entwickelt. Da das Kind seine Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes richten kann, wird es nun fähig, die Anwesenheit von so vielen Klassenkameraden zu ertragen ohne dauernd abgelenkt zu sein. Sein Lernwille ermöglicht ihm, dem Unterricht zu folgen, Anweisungen zu erfassen und Arbeiten auch zu Ende zu bringen. Mehr und mehr hat es ein inneres Ideal, wie seine Arbeit, z. B. ein Bild auszusehen hat.
Das Kind zeigt echte Bedürfnisse nach sozialer Erfahrung. Es lernt Geben, Nehmen, Teilen, Gewinnen und Verlieren und es bekommt ein Gespür für die Bedürfnisse anderer.
Das Kind kann sich nun von seinen Eltern für eine bestimmte Zeit trennen. Es kann diese Trennung als vorübergehend erfassen und braucht keine Übergangsobjekte wie Daumen oder Schmusedecke mehr um diese auszuhalten.
Es lernt warten bis es an die Reihe kommt, kann sich in einer Gruppe auch zurücknehmen um einem anderen Kind Raum, Zeit, Zuwendung zu überlassen.

„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht."
Geben wir ihm Raum und Zeit, Sonne und Regen – alles zu seiner Zeit.

Text: Dr. Elisabeth Frank, ehemalige Schulärztin in Wien-Mauer

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